Aspekte gesprochener Sprache im Chat

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Diese Seite ist eine Ergänzung zum Unterrichtskonzept Die Notwendigkeit einer "muttersprachlichen Mehrsprachigkeit".


Inhaltsverzeichnis

Autorin

Janina Hofmann

Überblick

Die Kommunikation im Chat weist Besonderheiten der gesprochenen Sprache auf. Der Chat (Plauderchat und Expertenchat) wird offenbar als ein Raum wahrgenommen, in dem die Sprechsituation eher einem gesprochenen Gespräch gleicht. Mit dem Ziel kommunikativ erfolgreich zu sein, werden Beiträge adressatengerecht für anwesende Personen produziert. Auch das Fokussieren von Objekten wird, wie das situationsgebundene Zeigen im Gespräch, eingesetzt. Prosodie, Mimik und Gestik können Gespräche spezifisch nuancieren und Emotionen verstärken. Im Chat werden diese Besonderheiten durch durchgehendes Großschreiben, Iterationen, Smileys und Inflektive graphisch umgesetzt. Die gesprochene Sprache ist ein flüchtiges Medium, deren Beiträge nur durch Aufzeichnung (Audio, Video, Mitschrift) auch zu späteren Zeitpunkten nochmals nachlesbar sind. Im Chat hingegen ist jeder Beitrag durch zurückscrollen rezipierbar und steht durch Speichern sogar dauerhaft als Chatprotokoll zur Verfügung. Dennoch unterscheidet sich ein Chatprotokoll von herkömmlichen Protokollen. Da die Beiträge aufgrund des Zeitdrucks nur gering vorausgeplant sind, aber bereits schriftlich realisiert werden, leidet hier oftmals der elaborierte auf Kohäsion bedachte Sprachstil. Die Beiträge werden zudem in die laufende Interaktion verankert; bei der nachträglichen Rezeption gibt es daher bisweilen Probleme, die Bezüge der Beiträge richtig zuzuordnen bzw. sie kohärent aufeinander zu beziehen.

Chatauszug zur Verdeutlichung der Parallelen zwischen gesprochenem und getipptem Gespräch

Aspekt: Gesprochene Sprache

Das nebenstehende Beispiel zeigt, dass die Chatteilnehmer ihre Beiträge ähnlich gestalten wie in einem gesprochenen Kommunikationsaustausch. Fragestellungen, keine rhetorischen Fragen, zeigen Interesse am Beitrag des Kommunikationspartners ebenso wie das explizite Ansprechen eines Teilnehmers (Z.4: „jasmin“, Z.5: „stimmt, Biene“). Hierdurch wird das Gespräch gelenkt und die Beitragssituation erhält insgesamt einen dialogischen Charakter. In gesprochenen Kommunikationen werden oftmals Beiträge mit Nachdruck oder Betonungen formuliert, um Missverständnissen vorzubeugen oder um Intentionen und Gefühle zu unterstreichen. Im Chat zeigen sich hier keine grundlegenden Innovationen, vielmehr greifen Chatter auf die Besonderheiten gesprochener Sprache zurück und prägen ihre Beiträge häufig emotional, setzten Smileys und spezielle Akronyme (Z.3: „looool“, Z.8: „*g*“) zur Darstellung ihrer Mimik ein oder Inflektive zur gestisch-szenischen Unterstützung. Iterationen für eine lang gezogene Sprechweise (Z.3: „looool“) und Großschreibung für lautes Sprechen (Z.6: „MUSS“) nehmen die Funktion von Prosodie an. In Gesprächen werden Aussagen an die jeweiligen Adressaten bis zu einem bestimmten Grad angepasst, um zum Beispiel Sympathie oder Gruppenzugehörigkeit zu bekunden oder einfach um kommunikativ erfolgreich zu sein. So treten in Plaudergesprächen wie im Plauderchat häufig dialektische oder umgangssprachliche Äußerungen auf (Z.5: „weiß net“, Z.7: „kanns“, Z.8: „ne“). Um das Rederecht zu markieren, das heißt um zu verdeutlichen, das ein Redebeitrag folgt oder noch nicht beendet ist treten in gesprochenen Aussagen eine Vielzahl Redundanzen auf, wie z.B.: hör mal, ich bin der Meinung, dass, ich wollte nur fragen, ob. Aber auch redundante Aussagen, die nachgestellt werden und das Gesagte nochmals sichern (Z.7: „stimmt, Biene. Ich kanns mir auch nicht anders denken.“). In kurzen Erzählbeiträgen werden Pausen oft gefüllt (äh, also, ähm, ja, tja), um den Beitrag nicht durch einen Beitrag eines Gesprächspartners zu unterbrechen. Im Chat zeigen sich, obwohl funktionslos, denn im Chat kann ein abgeschickter Beitrag nicht unterbrochen werden, ebenfalls gefüllte Pausen (Z.5: „ja“, Z.8: „eigentlich“), aber auch grafisch nachgebildete ungefüllte Pausen (Z.5/ Z.8: „ ..“), diese scheinen vor allem Satzzeichen oder Denkpausen zu vertreten. Der geringe Gebrauch von Satzzeichen geht einher mit einer hohen Toleranz gegenüber grammatischen und orthographischen Verstößen, die in erster Linie auf die schnelle Produktion der Beiträge zurückzuführen sind (Z.5: „19: 30: 16 Biene, Z.6: „19: 30: 31 Denise“). Der Chatteilnehmer, sowie der Teilnehmer in einer gesprochenen Kommunikation, kann seinen Beitrag nicht lange sprachlich ausfeilen, da er bemüht ist im Gesprächsfluss zu bleiben und eine relativ schnelle Reaktion von ihm erwartet wird. Bei mehreren Parallelgesprächen im Chat tritt zudem das Problem des richtigen Bedeutungszusammenhangs auf, da ein verspäteter Beitrag eventuell nicht mehr richtig zugeordnet und verstanden werden kann. Das schnelle Produzieren eines Beitrags erklärt auch die Häufigkeit von Ellipsen (Z.2: „auch in stuttgardt?“), da hier Auslassungen Beiträge verkürzen und somit schneller produziert sind.

Besonderheiten gesprochener Sprache

  1. Die Verwendung vieler sprechsprachlich bedingter Partikel (...tja, ...ja, ...ach, ...voll).
  2. Das vermehrte Auftreten von Interjektionen (...ui, ...oh, ...hoppla).
  3. Gespräche sind stärker affektiv und emotional geprägt (... sooo geil, ...voll krass).
  4. Der Sprachgebrauch ist oftmals regional, dialektal oder umgangssprachlich geprägt.
  5. Häufig werden Silben verschluckt oder weggelassen (Tilgungen).
  6. Häufig werden zwei Wörter miteinander verschmolzen, so genannte Verschmelzungen (...haste, ...biste, ...kannste).
  7. Ellipsen sind typische Merkmale gesprochener Sprache.
  8. Der richtige Gebrauch von Syntax und Grammatik wird in Gesprächen oft vernachlässigt (Unklare Ganzsatzgrenzen, freistehende Nebensätze, geringe Verwendung von Kohäsionsmitteln).

Die folgenden Chatauszüge zeigen das Vorkommen der oben aufgezählten Aspekte und unterstützen die Auffassung, Chats seien getippte Gespräche

Im Artikel Entwicklung einer Unterrichtseinheit zum Thema internetbasierter Kommunikation stehen alle Beispiele unter dem Punkt "Medien/Lernmaterialien" markiert und unmarkiert zum Herunterladen zur Verfügung.

  • Aspekt:Partikel und Interjektionen

Partikel und Interjektionen sind typische Merkmale von gesprochener Kommunikation. Ihr Vorkommen im Plauderchat stützt die Auffassung, Chats seien getippte Gespräche. In Expertenchats treten sie hingegen sehr selten auf. Durch Partikel und Interjektionen wird die Kommunikationssituation aufgelockert, zumal sie im Allgemeinen in eher emotional geprägten Gesprächen auftreten. Ihre Verwendung ist für das Verständnis unnötig und hinsichtlich des Zeitdrucks oder Zugzwangs im Chat vielleicht auch unverständlich, auch wenn sie häufig nur aus drei Buchstaben bestehen. Zur Untermalung eines Empfindens scheinen sie jedoch ökonomischer als die Umschreibung eines Gefühls in ganzen Sätzen. Als Einleitungsmerkmal leiten sie die Intention des folgenden Beitrags ein, und erleichtern somit ein schnelles Lesen und Begreifen.

Aspekt: Partikel und Interjektionen
  • Aspekt: affektiv und emotional

Affektive und emotionale Chatbeiträge werden durch eine Vielzahl von besonderen Stilmitteln geprägt. Hierzu zählen Smileys, Inflektivkonstruktionen, Iterationen, Emotionsausdrücke und Interjektionen. Diese grafischen Besonderheiten kompensieren das Fehlen von Mimik, Gestik, Sprechgeschwindigkeit, Betonungen und Sprechpausen. Smileys geben oft einen Interpretationshinweis, so soll zum Beispiel ein ironischer Beitrag durch ;-) auch unmissverständlich als ironisch verstanden werden, was in gesprochener Kommunikation durch Augenzwinkern nicht immer deutlich genug ist. Smileys können auch optische Merkmale oder Eigenschaften der Chatteilnehmer verbildlichen, so weist :-{ auf einen Schnurbartträger hin und ein }:-) stellt den teuflischen Charakter eines Chatteilnehmers oder seiner Aussage dar.

<fiesgrins> (Z.12) ist ein Beispiel für eine Inflektivkonstruktion und hebt eine gegenwärtig ausgeführte Handlung hervor. Inflektive haben ihren Ursprung in Comics, was bezeichnend für ihre szenische Eigenheit ist. Im Chat führt ein gehäufter Gebrauch von Inflektiven oft zu kleinen, dem Theater ähnlichen, Inszenierungen.

Iterationen (Z.11: „niiiiiiicht“) kommen ebenfalls sehr theatralisch zum Einsatz, doch auch um die Prosodie eines Beitrags, zum Beispiel als lang gezogene Betonung eines Wortes, zu kennzeichnen.
Aspekt: affektiv und emotional
  • Aspekt: Verschriftung einzelner Wörter (Dialekt, Umgangssprache)

Das Einbringen dialektaler oder umgangssprachlicher Wendungen lässt sich als Hinweis auf eine Identifikation oder Sympathisierung mit einer bestimmten Gruppe deuten, aber auch als Anzeichen für ein unkompliziertes, freies Gespräch. Je mehr solcher Wendungen auftreten, desto näher sind sich die Gesprächsteilnehmer oder desto weniger sachlich- distanziert ist das Gespräch.

Bei sehr starkem Verschriftlichen eines nicht leicht zugänglichen Dialekts können aufgrund von Verständnisschwierigkeiten auch Personengruppen ausgeschlossen werden.
Aspekt: Dialekt
Aspekt: Verschriftung einzelner Wörter (Dialekt, Umgangssprache)
  • Aspekt: Tilgungen

Wie in der gesprochenen Kommunikation werden im Chat häufig Buchstaben eines Wortes getilgt. Ein Verständnisproblem tritt dadurch nicht auf. Bei Expertenchats oder bei formellen Gesprächssituationen, wie zum Beispiel im Vorstellungsgespräch, bemüht sich der Kommunikant jedoch um eine deutliche Aussprache bzw. genaue Schreibweise. Hinsichtlich des Zeitdrucks im Chat scheinen Tilgungen beinahe eine logische Folge in Verbindung mit Akronymen, Ellipsen und Verschmelzungen mehrerer Worte zu sein, dennoch wäre eine Schreibweise ohne Tilgungen nicht auffällig und wird ebenso praktiziert. Verschmelzungen und Ellipsen (nachfolgende Beispiele) lassen sich im Sinne der oben gegebenen Erklärung zu den Tilgungen verstehen.

Aspekt: Tilgungen
Aspekt: Verschmelzungen
Aspekt: Ellipse
  • Aspekt: Unklare Ganzsatzgrenze und freistehende Nebensätze

Die Einhaltung elaborierter Sätze, wie sie im Schriftgebrauch üblich sind, fallen im Plauderchat in der Regel weg. Weder werden Hauptsätze durch Subjekt, Objekt und Verb immer klar erkennbar (Z.05: „konservativ bis zum umfallen), noch stehen Nebensätze nur in Verbindung mit Hauptsätzen (Z.08: [...] als student meine ich“). Im Chat tritt die Produktion einer Frage oft mit dem Erscheinen einer Frage des Kommunikationspartners auf. Dies führt zu gemischten Beiträgen, in denen einerseits eine Frage und andererseits eine nachgestellte Antwort, die nicht notwendigerweise themengleich ist, kombiniert (Z.01: „welcher kulturbereich interessiert dich besonders, ja kenne ich..etwas mehr Natur“). Die gesprochene Kommunikation wäre in diesem Fall in der Regel geordneter. In beiden Kommunikationssituationen übernimmt das Verb häufig die Funktion des Subjekts (Z.09: „muss da auch mal weg“), so ergibt sich der Eindruck eines Telegrammstils.

Aspekt: Unklare Ganzsatzgrenze und freistehende Nebensätze
  • Aspekt: Geringe Verwendung von Kohäsionsmitteln

„[...] schau doch mal ihr zartes alter an [...]“ (Z.01) ist insofern ein Beispiel für geringe Verwendung von Kohäsionsmitteln, da hier ignoriert wird, dass sich das Alter eines Menschen nicht anschauen lässt. Genauso wenig kann ein abstrakter Begriff wie Ferien nicht die Funktion oder Wirkung von Gift haben.

Aspekt: Geringe Verwendung von Kohäsionsmitteln


Literatur

Alle verwendeten Chatauszüge sind aus dem Dortmunder Chat-Korpus (STACCADo) entnommen. http://www.chatkorpus.uni-dortmund.de

Androutsopoulos, Jannis K. /Ziegler, Evelyn: Sprachvariation und Internet: Regionalismen in einer Chat-Gemeinschaft. Mannheim / Freiburg i. Brsg., 2003.

Beißwenger, Michael: Das interaktive Lesespiel. Chat-Kommunikation als mediale Inszenierung. In: Beißwenger, Michael (Hrsg.): Chat-Kommunikation. Sprache, Interaktion, Sozialität & Identität in synchroner computervermittelter Kommunikation. Perspektiven auf ein interdisziplinäres Forschungsfeld. Stuttgart, 2001.

Dürscheid, Christa: Netzsprache – ein Mythos. In: Beißwenger, Michael/ Hoffmann, Ludger und Storrer, Angelika (Hrsg.): Osnabrücker Beiträge zur Sprachtheorie. Internetbasierte Kommunikation (68). Duisburg, 2004.

Haase, Martin/ Huber, Michael/ Krumeich, Alexander/ Rehm, Georg: Internetkommunikation und Sprachwandel. In: Weingarten, Rüdiger (Hrsg.): Sprachwandel durch Computer. Opladen, 1997.

Hoffmann, Ludger: Chat und Thema. In: Beißwenger, Michael/ Hoffmann, Ludger und Storrer, Angelika (Hrsg.): Osnabrücker Beiträge zur Sprachtheorie. Internetbasierte Kommunikation (68). Duisburg, 2004.

Koch, Peter/ Oesterreicher, Wulf: Funktionale Aspekte der Schriftkultur/ Functional Aspects of Literacy. In: Günther, Hartmut (Hrsg.): Schrift und Schriftlichkeit: ein interdisziplinäres Handbuch internationaler Forschung/ Writing and ist use. Berlin, 1994.

Storrer, Angelika: Schriftverkehr auf der Datenautobahn: Besonderheiten der schriftlichen Kommunikation im Internet. In: Voß, G.G.; Holly, W. & Boehnke, K. (Hg.): Neue Medien im Alltag: Begriffsbestimmungen eines interdisziplinären Forschungsfeldes. Opladen, 2000.

Storrer, Angelika: Getippte Gespräche oder dialogische Texte? Zur kommunikationstheoretischen Einordnung der Chat-Kommunikation. In: Lehr, Andrea; Kammerer, Matthias et al. (Hg.): Sprache im Alltag. Beiträge zu neuen Perspektiven in der Linguistik. Berlin u.a., 2001.


Zum Unterrichtskonzept Die Notwendigkeit einer "muttersprachlichen Mehrsprachigkeit" von Janina Hofmann